Chaos und Alltag
#CoronaLetters
Die #CoronaLetters sind eine künstlerische Auseinandersetzung mit realen Artefakten der Corona-Krise. Die beiden Autorinnen Shida Bazyar und Rebekka Endler sind eingetaucht in das coronarchiv und haben 12 Objekte von Bürgerinnen und Bürgern ausgewählt, die sie bewegten. Ausgehend von diesen Objekten ist der Briefwechsel zwischen Ida und Toni entstanden – eine Geschichte in Ausnahmezeiten, die das Menschsein in den Mittelpunkt rückt. Die #CoronaLetters erzählen von Miteinander und Alleinsein, Chaos und Alltag, Hoffnung und Zweifel.
Von Ida
an Toni vom 27.03.2020
Hallo Toni,
In irgendeinem Podcast habe ich gehört, dass die Menschen mehr schreiben, gerade Leuten, die sich schon lange nicht mehr gesehen haben und da musste ich an Dich denken. Und ich denke seitdem immer wieder an Dich, denn ehrlich gesagt ist das über einer Woche her, aber alle Anfänge waren zu plump, zu kitschig, zu vermessen, zu gewollt kumpelig…
Vielleicht so: Ich stand im REWE und wollte Spülmittel kaufen und während der Typ in meinem Kopfhörer davon redete, dass dieser Ausnahmezustand uns näher zusammenbringt und dass wir vor einer historischen Chance stehen, Solidarität neu zu definieren bla bla bla, wollte ich losschreien, die leeren Seife und Klopapier-Regale anbrüllen: Halt die Fresse!
Ich weiß nicht, was mein größeres Problem ist: Der Wunsch permanent zu schreien, oder, dass ich es nicht tue? Nicht mehr tue.
Weißt Du noch, wie wir uns früher alles aus dem Leib geschrien haben? Natürlich, wie solltest Du das vergessen haben. Erst aufzuhören, wenn dieses Brennen in der Lunge und das Kratzen im Hals nicht mehr auszuhalten war. Ha, und dann diese Heiserkeit, die uns immer wieder in Erklärungsnot brachte. Es war unser Geheimbund. Ich vermisse das.
Ich hoffe wirklich, egal wo und mit wem Du bist, es geht Dir gut und Deine Regale sind gefüllt.
Ich freue mich, wenn Du etwas aus Deinem Leben teilst, aber ich erwarte nichts. Wir haben alle genug mit uns selbst und dem Moment zu tun.
Lieben, verschwiegenen Gruß
Ida
Von Toni
an Ida vom 04.04.2020
Liebe Ida,
das sind dann wohl diese Überraschungen, diese neuen Arten der Freude, von denen alle immer reden: deine Postkarte in meinem Briefkasten. Denn natürlich habe ich auch in letzter Zeit an dich gedacht und natürlich habe ich auch darüber nachgedacht, mich bei dir zu melden. Vielleicht sitzen wir ja alle momentan in unseren Räumen und denken, ohne es richtig wahrzunehmen, an jeden einzelnen Menschen, der uns in unserem Leben etwas bedeutet hat und stülpen ihm dieses Szenario über: ein neuartiges Virus, ein Planet im Stillstand, das Warten auf Erkenntnisse und Lösungen. Ich glaube ja, dass es nicht mehr allzu lange dauern kann, bis wir zur Normalität zurückkehren werden. Es kommt einem nur so ewig vor, weil wir nicht wissen, wo das Ende liegt.
Und bis dahin, ich traue es mich gar nicht richtig zu sagen, geht es mir in der jetzigen Situation eigentlich ganz gut. Ich weiß, das ist nicht en vogue, das ist auch auf seine Art pietätslos, aber ich kann nicht anders, als zuzugeben, dass mir der Stillstand hilft. Ich koche, ich lese, ich backe, ich habe meine Küche renoviert und Klamotten ausgemistet. Ich habe mich noch nie so ausgeglichen gefühlt. Der Sozialstress ist weg, das Gehetze in den Öffentlichen, die vielen anstrengenden Sitzungen in unserem schlecht durchlüfteten Konferenzraum. Stattdessen sitze ich in Yoga-Hose in meinem Arbeitszimmer und kann Pause machen, wann ich möchte. Und nicht nur ich mache Pause, der ganze Planet hat mitgemacht. Ich denke immerzu an die Delfine in den Kanälen von Venedig, ich meine, gibt das nicht Hoffnung, dass sich nach der Pandemie alles neu sortieren könnte? Manchmal sehe ich auf meinen Spaziergängen die Orte, die sonst voller Hektik und Menschenmassen sind. Sie sind so still, so zeitlos. Als würden sie endlich schlafen dürfen.
Toni
Ps. Das mit den Delfinen war Fake, habe ich gerade erfahren. Ok. Aber ändert das was? Allein dass es sein KÖNNTE gibt doch schon Hoffnung?
Von Ida
an Toni vom 23.04.2020
Toni!!!!
Oh, was für eine Erleichterung von Dir zu lesen und zu wissen, dass es Dir gut geht, ja, dass Du sogar auf Deine typische Toni-weise einen Gefallen an dieser Zeit gefunden hast. Ich habe nicht sofort antworten können, denn Deine Zeilen haben mich unfassbar neidisch gemacht. Kein schöner Zug, ich weiß, aber ich will ehrlich sein: Yoga, essen, lesen, backen und vor allem PAUSEN – das liest sich wie die Instagram Captions der Leute, denen ich nur folge, um sie mit Inbrunst zu hassen. Wer lebt so?
“Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.”
Zugegeben, ich habe seit Ewigkeiten kein Buch mehr gelesen (geschweige denn ein dickes, altes), deswegen habe ich das Tolstoi Zitat auch nicht aus seinen Büchern, sondern, wie die allermeisten Menschen, aus dem Internet. Ich beneide Dich, denn seit Beginn der Pandemie beschleicht mich das Gefühl, dass ich auf der Seite hinter Tolstois Komma stehe. Was für Dich still und zeitlos ist, ist für mich laut und unendlich. Denn, ach ja, ich bin seit knapp 5 Jahren Mutter. Richtig, ich habe ein Kind und ein zweites ist unterwegs. Meine Tochter, Alvina, klebt nun schon seit 6 Wochen rund um die Uhr an mir. Der Kindergarten hat auf Notbetreuung umgestellt und ich bin schwangerschaftsbedingt krankgeschrieben, Spielplatz ist nicht, die Eltern ihrer engsten Freundin bei uns in der Straße “glauben nicht an Corona” und ich habe ernsthaft keine Energie, mich mit ihrem Wahnsinn zu beschäftigen. Wäre ich ein Känguru, das Kind würde den Beutel nicht verlassen. Ich muss mich auf dem Klo einschließen, um mal ein paar Minuten in Ruhe mein Leben zu hassen können, während ich auf Insta Fotos von Sauerteigbroten like, oder wie jetzt eilig einen Brief schreibe. Und glaub mir, ich weiß genau, erbärmlich wie das klingt.
So geht es mir übrigens auch mit den Delfinen in Venedig. Mich interessiert gar nicht, ob sie echt sind, oder nicht, ich sehne mich danach mit ihnen tauschen und mir auch ein Stückchen Welt zurückzuerobern. Genau, wie dieser definitiv nicht echte Frosch auf der Postkarte es verdient hat, wieder zu bewegt zu werden. Hoffentlich hast Du Recht und es ist bald soweit!
Ida
Von Toni
an Ida vom 05.05.2020
Entschuldige, Ida,
ich habe da so von meinem sorglosen Single-Life erzählt und habe gar nicht damit gerechnet, dass sich dein Leben so verändert haben könnte – das muss der blanke Hohn gewesen sein, was ich da geschrieben habe (wahr ist es trotzdem, aber dafür kann ich ja nichts.). Es fühlt sich viel zu oft so an, als hätte die Welt nicht nur neue Viren, sondern auch gleich neue Fettnäpfchen bestellt. Alle machen alles falsch und man selbst ist vorne mit dabei. Vor einer Weile habe ich angefangen, beim Einkaufen meinen Schal über Nase und Mund zu wickeln. Einfach, weil man doch gehört hat, dass das helfen könnte. Und was haben mich die Leute im Supermarkt deswegen wütend angeguckt. Als würde mich irgendeine Schuld treffen, ich weiß nur nicht, wofür (musste daran denken, wie du als 14jährige gesagt hast, du wärst jetzt Vegetarierin und dir so viele Erwachsene schimpfend und grundlos erklärten, warum sie Fleisch mögen). Jetzt gibt es die Maskenpflicht und ich würde am liebsten ganz laut „Siehste!“ zur Kassiererin sagen. Aber die ist in all der Zeit einer der wenigen Menschen, die überhaupt mit mir reden. Und sie macht ihren Job, während alle anderen sich selbst schützen. Wo wären wir ohne sie.
Bei der Nachbarin drunter habe ich neulich geklingelt, um zu fragen, ob sie Unterstützung braucht. Ehrlich gesagt habe ich aber auch geklingelt, weil ich kurz sichergehen wollte, dass sie noch lebt. Das Gespräch war so kurz, wie es schräg war: Sie war einerseits beleidigt, dass ich sie für hilfebedürftig halte, wollte außerdem die Tür aus Angst vor meinen Viren nicht öffnen und dann brauchte sie eben tatsächlich Hilfe, was sie aber zu ärgern schien und bei halb geöffneter Tür auch nicht so leicht zu kommunizieren war. Fettnäpfchen, überall. Um meinem romantischen, instagramtauglichen Alleinsein ein Klischee mehr zu verpassen, habe ich jetzt angefangen, Masken zu nähen. Die Nachbarin nämlich wusste nicht, wo man die herbekommt und so könnte es ja anderen auch gehen. Auf die Idee kam ich, als ich diesen Zettel hier gesehen habe. Liest sich – unabhängig von der Info über die Masken – nämlich irgendwie auch so, als wäre da jemand gefangen in der eigenen Hilfsbereitschaft. 4€ pro Maske? Ist das zu viel? Zu wenig? Ich habe das Gefühl für Geld verloren, seit ich keines mehr ausgebe. Und, wer kümmert sich in eurem Haushalt so um die Masken?
Ich wünschte ja übrigens, wir hätten uns früher geschrieben, nicht erst jetzt. Du hast eine Tochter! Ich wüsste so gerne, ob sie dir ähnelt. Ich weiß noch, wie deine Mutter schwanger wurde und du so stolz darauf, große Schwester zu werden. Als wärest du irgendwie auch Teil der Elternschaft. Ich weiß nicht, wie das Leben mit Kind und Pandemie so ist, aber das sind doch kindliche Eigenheiten, die auch in solchen Ausnahmesituationen noch stattfinden. Hoffe ich zumindest.
Toni
Von Ida
an Toni vom 10.06.2020
Nein, nein, nein, oh Toni, wenn ich eins nicht wollte, dann eine Entschuldigung von Dir! Glaub mir, Dein Leben ist kein Fettnäpfchen, sondern ein Champagner-Becher (aber nicht diese ollen Flöten, sondern eins von der Sorte in dem Dita von Teese badet). Manchmal sehe ich jetzt auf Instagram Dein Gesicht, wie Du in Deinem aufgeräumten Wohnzimmer, in der alle Kissen zu einer Farbfamilie gehören, den herabschauenden Hund machst. Das bist natürlich nicht Du, aber es macht Spaß mir das vorzustellen. Mein Neid ist vorübergehend, viel größer ist die Neugier über Dein glamouröses Single-Life (tell me more, tell me more!).
Die Predigt to go geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Glaubst Du, es gibt Menschen, denen das hilft? Einen Zettel aus einer Box nehmen und die Seele wird leichter? Das Konzept ist mir so fremd – ich will eher etwas abladen, als draufladen. Deswegen schreibe ich Dir!
Diese beschissene Situation macht, dass wir alle an einem Punkt sind, an dem die Konsequenzen unserer Entscheidungen einfach mal ganz andere sind, als das, wofür wir dachten, dass wir uns angemeldet haben. Wie damals, als Du uns an Deinem 12. Geburtstag plötzlich alle gezwungen hast „Das Schweigen der Lämmer“ auf Video zu gucken, obwohl auf der Einladung was von „Verrückt nach Mary“ gestanden hatte. Haha! Danach hatte ich wochenlang Angst einzuschlafen. Heute ist das kein Problem mehr, ich bin so müde, ich könnte immer und überall schlafen – immerhin!
Lustig, dass Du Dich an meinen Anfang als Vegetarierin erinnerst. Ich hab es echt lange durchgezogen, aber seit ein paar Monaten esse ich wieder Fleisch. Am Anfang dieser Schwangerschaft, gleichzeitig der Anfang der Pandemie, da überkam mich unerklärlicher Hunger nach Blutigem und weil ich das Gefühl hatte, mir sei sonst nichts vergönnt und die Alternative (Alkohol u.Ä.) weitaus weitreichende Konsequenzen haben könnte, esse ich Steak, anstatt mich zu betrinken. Der Rausch bleibt aus, aber das Gefühl zu sündigen tut mir gut. Vielleicht sollte ich der Predigt to go doch eine Chance geben?
Toni, willst Du wissen, wer sich in unserem Haushalt um die Masken kümmert? Oder willst Du wissen mit wem ich zusammen lebe? Ich kümmere mich. Um Masken und fast alles Zuhause. Aber ich wohne mit meinem Mann, Patrick, zusammen. Ich hab es bisher nicht erzählt, weil ich Dich vor mir sehe, wie Du mit den Augen rollst… Wir haben geheiratet, als ich mit Alvina schwanger war, es war eine ganz kleine Hochzeit, eher eine Formalität, nur Eltern und Geschwister war dabei. Mittlerweile habe ich allerdings das Gefühl unsere Familie ist auch nur eine Formalität, denn Patricks Leben hat kaum mehr mit dem von Alvina und mir zu tun, außer, dass es parallel zu unserem stattfindet. Er arbeitet den ganzen Tag von unserem Schlafzimmer aus, während es auch dem Nachbarzimmer „Bibi und Tina“ dröhnt und abends verfolgt er wie ein Besessener die Nachrichten, oder liest Sachen im Internet.
Ich weiß nicht, ob mir Alvina ähnlich sieht, aber ich hoffe, Du lernst sie bald mal kennen. Sobald es geht, kommen wir beide Dich besuchen!
Fühl Dich gedrückt
Ida
PS: Ruth studiert jetzt Tanz in Madrid, zumindest sollte es dieses Semester losgehen, aber stattdessen hängt sie in einem mini Zimmer im Wohnheim fest und muss versuchen ihre Kurse über Zoom zu machen. Sie beschwert sich nicht, aber ich merke, wie sehr die Einsamkeit ihr auf’s Gemüt schlägt. Du hast recht, ich fühle mich immer noch verantwortlich für sie. Wie ist es mit Dir und der Einsamkeit? Triffst Du Dich mit Leuten?
PPS: Vier Euro sind viel zu wenig! Ich würde 10 nehmen. Aber schickst Du mir eine für lau?
Von Toni
an Ida vom 28.06.2020
Verspätete Hochzeitsgratulation, liebe Ida!
Das kommt so von Herzen, wie ich dich auch gleichzeitig dafür auslache – aber das weißt du ja selbst. Ich stelle mir Patrick vor wie eine Mischung all der Schulhof-Boys, denen du damals hinterhergerannt bist und für die du auch damals schon zu gut warst. Aber wer bin ich schon, das zu bewerten, meine Beziehungen endeten ja alle nicht weniger dramatisch als beim 10.Schuljahr-Klassenfahrts-Gate, aber lassen wir das.
„Fuck Corona“ stand da so unschuldig auf einem bunten, hilflos wütenden Stein. Das bin ich, habe ich gedacht, genau das bin ich. Unschuldig, sauber-reinlich, noch nie hatte ich so viel Zeit für Körperpflege, noch nie waren meine Outfits so bunt und leuchtend und noch nie habe ich so viel Wut gehabt. Meine Wohnung könnte zwar tatsächlich so aussehen, wie du sie dir vorstellst, was man bei instagram aber nicht wahrnimmt ist, ist ihr Gestank. Ich habe nämlich auch alle Prinzipien abgelegt, ich rauche nicht nur wie ein Schlot, ich rauche auch noch drinnen. Meine Wohnung ist ein lila Stein mit Glitzer, der ein lautes Fuck off durch die Gegend brüllt.
Du merkst, die Stimmung hat sich hier geändert und das, obwohl überall sonst ja sowas wie Normalität passiert. Das Wetter wird schöner, die Läden und Schulen sind geöffnet, Menschen machen Urlaub. Ich weiß nicht genau, woher sie diese Siegessicherheit nehmen, mich beruhigt das nicht. Solange es noch immer ein paar Infektionen jeden Tag gibt, kann es doch immer wieder irgendwo entfachen, oder? Meine Wut aber kommt von einer anderen Seite.
Ich hatte dir erzählt, von meiner alten Nachbarin, die unter mir wohnt. Wir sind so etwas wie eine Leidensgemeinschaft geworden. Nicht, weil wir uns „helfen“ oder ich mich um sie „kümmere“, sondern weil wir, Schritt für Schritt, Tag für Tag, zu den einzigen Kontakten wurden, mit denen wir jeweils redeten. Irgendwann haben wir uns gegenseitig aus dem Treppenhaus in die jeweilige Wohnung gebeten, und beschlossen, dass ihre Viren auch meine sein sollen und meine ihre. Weil wir eh niemanden sehen, können es so viele Viren ja auch nicht sein. Das könnte eine süße, herzerwärmende Geschichte unter zwei Nachbarinnen werden, wenn sie und ich zwei süße, herzerwärmende Leute wären. Manchmal möchte ich platzen, weil sie – in ihrem berechtigten Leiden – bei so merkwürdigen Anschuldigungen endet. Sie kann ihre erwachsenen Kinder, ihre Enkelkinder nicht sehen. Ihre erwachsenen Kinder sind in Kurzarbeit und arbeitslos geworden, können Kredite nicht mehr zahlen. Ihre Enkelkinder haben Angst, dass sie stirbt, reden bei jedem Videoanruf nur von ihrem Tod. Undsoweiter. Alles schlimm! Keine Frage. Das spreche ich ihr auch nicht ab. Was mich wundert ist, dass sie dabei nicht checkt, dass das nun mal die Lage ist. Sie erzählt diese Dinge so, als hätte jemand ihr und ihren Liebsten absichtlich und grundlos willkürliche Maßnahmen aufgedrückt. Als würde es realistische Alternativen geben zu den Sicherheitsvorkehrungen, unter denen sie leidet. Ich weiß nicht mehr richtig, was ich ihr sagen soll und bin trotzdem unendlich froh, dass wir uns zusammengetan haben. Wir wechseln uns mit den Einkäufen ab und teilen uns das Obst und Gemüse, damit es nicht schlecht wird. Manchmal raucht sie eine mit und dann fluchen wir gemeinsam – sie weiß nicht, dass wir das aus unterschiedlichen Gründen machen. Sie ist eine solide gebildete, selbstständige Frau und sagt Dinge wie „All die Vorsicht und dann gab es ja doch kaum Tote! Wozu das alles?“. Wie soll man so jemandem was erklären? Darf ich ihr das erklären oder ist das irgendwie anmaßend? Und ich ärgere mich übrigens gar nicht richtig über sie sondern in erster Linie über all die anderen Pfosten da draußen. Wenn es nur bald diesen Impfstoff gäbe, dann hätte der geistige Quatsch nicht so viel Zeit, sich zu verbreiten. Ich habe gehört, im Dezember ist es so weit. Das hat eine Freundin einer Freundin erzählt, die in einem Mainzer Unternehmen arbeitet, die an einem Impfstoff forschen. Bitte recherchiere nicht, ob die Prognose stimmt. Ich halte mich an unechten Infos einfach fest, solange mich niemand eines Besseren belehrt. Und in Venedig hüpfen die Delfine. Kamen meine Masken eigentlich an? Der Delfin-Stoff sollte ein daran anknüpfender Witz sein, hinterher habe ich mich gefragt, ob dir das nicht doch ein bisschen zu albern war…sag Bescheid!
Toni
PS: Habe aus Langeweile angefangen, „Verrückt nach Mary“ zu gucken, was für ein schrecklicher bullshit, ich finde, ihr habt damals nicht anderes als „Schweigen der Lämmer“ verdient!
Von Ida
an Toni vom 28.07.2020
Hola Toni, liebste Grüße aus Madrid (bitte, bitte hass mich nicht!)
Gestern bin ich angekommen, es war alles ganz spontan. Am Sonntag noch stand ich mit Alvina an der Bushaltestelle und als ich das Plakat sah, war klar: Ich will nicht ins dämliche Rheinland-Pfalz, sondern nach Madrid, meine Schwester besuchen. Vielleicht lag es auch an Deiner schönen Delfin-Maske (vielen Dank!), dass ich auf einmal das Gefühl hatte, aufbrechen zu können.
Zuhause hab ich es im Internet gecheckt und Reisen nach Spanien sind wieder erlaubt. Allerdings bin ich im sechsten Monat, es musste also sofort sein. Ich ein Ticket gebucht und meinen Koffer gepackt, ich wusste, dass wenn ich Patrick davon erzähle, würde er es mir ausreden, also habe ich nichts gesagt (im Moment redet er ständig davon, dass das Virus in einem Labor in Wuhan gezüchtet wurde und die Pandemie in Wahrheit Unfall mit biologischen Waffen ist – was denkt er wie die Welt funktioniert? Fucking Jurassic Park und irgendein Typ im Hawaiihemd marschiert einfach mit einer Petrischale Virus raus? Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr mir das auf die Nerven geht!).
Bevor ich los bin, habe ich seine Mutter angerufen und gefragt, ob sie vormittags Zeit hätte auf Alvina aufzupassen. Sie hat sich so gefreut, dass sie gar keine Fragen gestellt hat, warum sie auf einmal ihre Enkelin sehen darf. Alvina wird es gefreut haben, sie hat die Oma sehr vermisst.
Auf dem Weg zum Flughafen hatte ich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit Herzklopfen. Und es klopft immer noch, ach was sag ich da, es galoppiert! Ruth hält mich für bescheuert, aber ich merke, dass sie froh ist mich zu sehen. Sie ist so dünn geworden, wie ein Vögelchen, das aufgepäppelt werden muss. Ich google jetzt Paella und koche uns erstmal was.
Deine Leidensgenossin klingt irgendwie anstrengend, warum Du freiwillig mit ihr Zeit verbringst, ist mir nicht ganz klar… Naja, wenn Du Recht behältst sind wir eh bald alle geimpft und alles ist wieder beim Alten. Mehr, wenn ich zurück bin (übermorgen), doch jetzt erstmal YOLO!
Idá
Von Toni
an Ida vom 27.01.2021
Asche über mein Haupt, liebe Ida, ich habe dir seit Monaten nicht geantwortet. Deine letzte Nachricht hat mich ehrlich gesagt unglaublich geschockt. Wirklich sehr geschockt. Und dann wusste ich nicht einmal, wie ich dir antworten soll? Eine Postkarte zu deinem verlassenen Ehemann schicken? Hast du eigentlich kein Handy oder haben wir aus Nostalgie so getan, als wäre das kein geeigneter Kommunikationsweg für uns? Wo bist du jetzt? Und, das ist ja noch peinlicher, jetzt erst zu fragen: Bist du jetzt eine zweifache Mutter? Zweifache spanische Mutter? Zweifache spanische, glücklich geschiedene Mutter? Du merkst, ich versuche, mit Humor aus der Peinlichkeit zu kommen. Humor geht ja oft auch schief, aber ich versuche es mit der Kombi aus schlechten Witzen und stoischer Würde – daher das Bild.
Weil deine Antwort an dieser Stelle ausbleibt, mache ich mal mit meinem Stand weiter: Es geht mir immer noch gut, es hat sich aber eigentlich kaum was geändert. Trotz neuem Jahr und trotz der Impfstoffe, auf die ich so sehnsüchtig gewartet habe. Aber da wusste ich ja auch noch nichts von irgendwelchen Mutanten – lassen wir die Details dazu, das weißt du ja alles selbst (hat dein Süßer auch dazu eine Jurassic Park Story auf Lager? Kein Blockbuster ohne zweiten und dritten Teil bitte).
Ich verbringe immer noch viel Zeit mit meiner Nachbarin Hilde. Sie bringt eindeutig genug mit, um sich die Frage gefallen zu lassen: Warum hängt man mit der eigentlich ab? Weil sie alles sieht, wahrnimmt, analysiert. Sie ist eine so aufmerksame Beobachterin, allerdings biegt sie bei der Bewertung oder der Interpretation oft völlig falsch ab. Mich hat das eine Weile sehr beschäftigt, denn ich glaube, dass es sehr viele Menschen wie Hilde gibt, denen man nie das Werkzeug gegeben hat, um die eigenen Gedanken ernst genug zu nehmen, um sie in politische Forderungen zu übersetzen. Beziehungsweise: Sie hat ja politische Forderungen, aber die haben eigentlich gar nichts mit ihren Beobachtungen, sondern vor allem mit ihrer aktuellen Gefühlslage zu tun. Ich habe jetzt erst verstanden, dass ich jemanden wie Hilde eigentlich nie in meinem näheren Kreis hatte und wusste deswegen auch nicht, wie ich darauf antworten könnte, ohne mir einzubilden, was Besseres zu sein. Mittlerweile kennen wir uns ganz gut, ich habe keine Hemmungen, ihr zu widersprechen. Hat sich nämlich herausgestellt, sie hat definitiv auch kein Bedürfnis daran, sich als was Schlechteres zu fühlen. Also widersprechen wir einander und dann streiten wir miteinander, genießen es und sie sagt am Ende sowas wie: „Ist mir Wurst, am Ende haben wir beide Recht und bringen tut‘s uns trotzdem nix.“.
Weil Hilde sehr früh im Januar geimpft wurde (über 70, Diabetikerin, Glückskind), hat sie entschieden, einen Teil zur Lage beizutragen und ist freiwillige Helferin in einem Impfzentrum geworden. Am Anfang dachte ich, vielleicht bringt mir das was, sodass ich auch schneller an einen Termin komme, aber Pustekuchen. Im Moment kommt ja keiner an eine Impfe, wer bin ich denn schon. Ich glaube, das Virus lacht sich heimlich schlapp darüber, wie saublöd wir uns anstellen. Seid ihr geimpft? Mit Neugeborenem sollte man ja Priorität haben, oder? Oder nicht?
Ich hoffe, es geht euch gut. Ich schäme mich wirklich, dass ich mich nicht gemeldet habe.
Toni
Von Ida
an Toni vom 03.02.2021
Toni, Du Dummi! Ich habe meinen Mann nicht verlassen, zumindest dachte ich nicht, dass ich ihn verlassen habe, ich musste einfach nur mal raus, einmal etwas “unvernünftiges” machen, bevor ich zweifache Mutter werde und nichts mehr geht… Vier Tage war ich in Madrid, dann ging es zurück nach Hause, zu Alvina und Patrick. Hat sich allerdings rausgestellt, nicht nur Du hast mich falsch verstanden, auch Patrick dachte, ich hätte ihn verlassen und obwohl ich ihm erklärt habe, dass es ein Missverständnis war, müssen wir jetzt irgendwie klarkommen. Der Riss zwischen uns verheilt gerade sehr schlecht.
Am 3.11.2020 ist Jolanda geboren, oder eher: Ich habe sie in stundenlanger Schwerstarbeit aus meinem Leib gepresst. Die Menschen, die behaupten, dass danach alles schnell vergessen ist, lügen. Ich habe nichts vergessen, und wenn mein Kopf kurz an etwas anderes denkt, erinnert sich mein Körper (Weißt Du noch, wie wir früher beim Kiffen solche Lachflashes bekommen haben, dass wir uns dabei bepieselt haben? So geht es mir jetzt ständig, nur leider ohne Gras und ohne Lachen, ich bin einfach nur nicht mehr ganz dicht.) Wegen der scheiß Pandemie durfte Patrick nicht mit in den Kreissaal, aber unter den Umständen war das auch irgendwie in Ordnung, ist ja nicht so, als wäre er eine Hilfe.
Im Gegensatz zu ihrer Schwester ist Jolanda ein anspruchsvolles Baby, ich liebe sie sehr, aber sie weint viel, hat Koliken und schläft nicht, wenn sie schlafen soll. Die Hebamme meinte, die allgemeine Anspannung der Zeit spiegelt sich im Verhalten von sehr vielen Babys im Moment. Und obwohl sie das wahrscheinlich wohlwollend gemeint hat, fühlte es sich an, wie ein Angriff auch mich, schließlich bin ich diejenige, die diese “allgemeine Anspannung” mit der Muttermilch an ihr Kind weitergibt.
A propos Muttermilch – ha, weil ich stille, darf ich nicht geimpft werden. Ich könnte kotzen! Patrick hat die erste Dosis intus (sein Unternehmen hat sich irgendwie vorgemogelt, damit bald alle zurück ins Büro können), seine Eltern beide. So kann immerhin Alvina sie wieder regelmäßig besuchen und wenn dann auch noch Jolanda, wie jetzt gerade, vor Erschöpfung einschläft, komme ich sogar dazu Dir zu schreiben 🙂
Ich muss zugeben, Deine Hilde klingt gar nicht mehr so schlimm. Einfach nur zum Spaß streiten, ist ein Idealzustand, den ich schon lange in keiner Beziehung mehr hatte. Ich bin froh, dass Ihr Euch habt, auch wenn Ihr ohne Pandemie wohl kaum jemals mehr als ein “Hallo” gewechselt hättet. Außerdem hast Du Recht, da draußen ist eine ganze Generation von alten Menschen, die nie gelernt haben ihren inneren Garten zu harken und über Gefühle zu sprechen. Überforderung zu spüren, ohne zu wissen, dass es Überforderung ist – kein Wunder, dass es so viele in destruktive Bahnen lenkt. Eigentlich bräuchten die alle Tonis in ihrem Leben
Übrigens, diesen WC Stein fand ich unfassbar lustig: Eine Erinnerung an etwas, dass gar nicht stattgefunden hat – für’s Klo, aus einem Ramschladen. Besser kann man das letzte Jahr nicht zusammenfassen. Außerdem schuldete ich Dir eh noch eine Revanche für die Delfin-Maske. Die ist leider in Madrid verloren gegangen. Vielleicht tummeln sich die Delfine gerade im Retiro Park? Inzwischen trage ich eh nur noch FFP2.
Toni, sag mir, wann hat das alles endlich ein Ende!?
Es drückt
Ida
Von Toni
an Ida vom 12.05.2021
Na: GANZ BALD hat das Ganze ein Ende, liebe Ida!
Ich checke jeden Morgen die Zahlen, wie viele Leute zum wie vielten Mal geimpft wurden. Es zog und zieht sich wie Gummi, ganz klar, aber es kommen jeden Tag Leute dazu. Hilde fotografiert täglich diese Sticker-Wand in ihrem Impfzentrum für mich. Sie ist irgendwie milder geworden, seit sie dort arbeitet. Einen Teil beizutragen, scheint ihr gut zu tun, ist ja klar, und sie sagt, die Impflinge (ekliges Wort?) sind so dankbar, dass sie ihr ihr Herz ausschütten, Persönliches erzählen, Pralinen als Dankeschön mitbringen. Und ich denke dann, dass Hilde ihnen ja auch was schenkt, ein Lächeln und einen bösartigen Witz, vielleicht.
Ich selbst habe keine Lust mehr, zu warten. Ich bin auf tausend Wartelisten bei tausend Ärzten und die diffuse Angst, der LETZTE MENSCH zu sein, der geimpft wird, lässt mich nachts nicht einschlafen. Nach Feierabend aktualisiere ich auf jeden Fall im 10sekunden-Takt den Bot auf meinem Handy für Impfreste, ich habe meinen Radius schon seeeehr weit ausgeweitet. Vielleicht wird das am Ende so laufen, dass ich einen Impftermin bei euch in der Nähe kriege und endlich dich und deine offensichtlich völlig verzogenen Kinder besuchen kann (entschuldige, ich fand das witzig, du hattest aber gesagt, dass du diesbezüglich empfindlich reagieren kannst. Lass den Quatsch bitte, du bist genau so eine schlechte und selbstverständlich trotzdem perfekte Mutter wie alle anderen, bemühten Eltern da draußen. Deine Arbeit würde unter anderen Umständen mit Medaillen und Pokalen honoriert werden müssen.).
Lass uns auf jeden Fall treffen, sobald wir beide geimpft sind. Ich kiffe auch mit dir, dann sind wir wieder zusammen inkontinent.
XOXO
Toni
P.S.: Der WC-Stein hat mein Leben bereichert. Bei jeder Klospülung dachte ich: Sorry, Jungs, selbst ihr müsst mal zurückstecken. Und jetzt wird diese EM ja bald doch stattfinden, wie soll das eigentlich klappen?? Meine Häme dröhnt ihnen dabei definitiv durchs Abflussrohr entgegen.
Von Ida
an Toni vom 01.11.2021
Toni, mein Herz, ich muss mich entschuldigen, dass ich Dir erst jetzt antworte!
Alles ging drunter und drüber und falls Du mir im letzten halben Jahr nochmal geschrieben haben solltest, tut es mir leid, Deine Post ist nie bei mir angekommen. Der Grund ist, dass ich ausgezogen bin. Patrick und ich haben uns getrennt, vielleicht habe ich ihn wirklich schon letzten Sommer verlassen, als ich in Madrid war, aber so richtig gesackt ist das alles erst später. Es kann auch gut sei, dass wir immer noch eine Familie wären und zusammenwohnen würden, wenn er nicht einen offenen Tab von Immoscout 24 auf meinem Laptop gesehen und mich zur Rede gestellt hätte. Von da an eskalierte alles. Es war ein Desaster und eine Erleichterung zugleich! Die Seite war schon seit Monaten als Tab offen und ich habe immer wieder nach Wohnungen geschaut, aber nicht ernsthaft, eher als Zeitvertreib, um zu wissen, was der Markt bietet. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet mir jetzt was Neues suchen zu müssen. Hast Du schon einmal in einer Pandemie eine Wohnung gesucht? Mit zwei kleinen Kindern und nur einem Bruchteil Deines früheren Einkommens? Es ist die Hölle, ich hab so gekotzt! Die ganze Welt trennt sich gerade und braucht neue Wohnungen und alle haben mehr zu bieten als ich.
Nach einer Ewigkeit, in der Patrick auf dem Sofa, oder bei seinen Eltern gepennt hat, hat es endlich – Corona sei Dank – geklappt. Denn das ist die andere Seite der Medaille: die Menschen trennen sich nicht nur, sie sterben auch. Die Mutter einer Kita-Freundinnen von Alvina hat ihre Eltern beide an Covid verloren und wir konnten die Wohnung samt vieler Möbel übernehmen. Jolanda und ich schlafen jetzt in einem dieser hässlichen Ehebetten, die es schon vor unserer Geburt bei Möbelhäusern zu kaufen gab, bevor Ikea halbwegs neutralen Geschmack unter die Leute brachte. Jolanda kullert immer in die Ritze zwischen den beiden Matratzen, aber es scheint ihr nichts auszumachen. Ruth und Alvina teilen sich ein Hochbett im Kinderzimmer.
Ach, genau, Ruth ist wieder hier! Sie hat ihr Studium geschmissen und wenn ich mir sie so anschaue, dann sieht sie nicht aus, als hätte sie gerade die Energie irgendwo ein neues Leben anzufangen. Sie ist so dünn geworden, Toni, ungelogen Alvina isst mehr als sie und demnächst muss ich mit ihr mal darüber sprechen, aber ich weiß nicht wie… Jedenfalls wusste Ruth nicht wohin, den Eltern will sie nicht zur Last fallen, die haben auch so genug Sorgen, also wohnt sie erstmal bei uns. Ich habe sie gerne hier, sie tut mir gut, endlich eine Erwachsene (oder fast) mit der ich mich über andere Dinge unterhalten kann als Politik, Corona oder Verschwörungskram. Ich habe das so vermisst, aber gleichzeitig merke ich, dass sie eher ihre Freund*innen um sich braucht, als ihre große Schwester und nervigen Nichten. Stell Dir mal vor, wie es uns mit zwanzig in dieser Situation gegangen wäre…
Jetzt habe ich viel darüber geschrieben, was passiert ist und kaum darüber, wie es mir geht. Moment… ich horch mal in mich rein… Es geht mir okay! Ja, ich bin gerade selbst etwas überrascht, aber der Druck, der seit mehr als eineinhalb Jahren auf meinem Brustkorb lag, ist ein bisschen weniger geworden, ganz so, als sei gar nicht alles nur fucking Corona-bedingt. Oder ich bin gerade ganz naiv im Auge des Sturms und schon morgen bricht wieder alles über uns herein. NEIN!!!
Alvina ist inzwischen Vorschulkind und Jolanda hat vier Zähne und kann alleine laufen, wenn alle fit sind gehen sie sogar alle beide für ein paar Stunden in die Kita. Dann setzte ich mich mit Kaffe in die rustikale Eckbank meiner neuen, alten Küche, scrolle durch Instagram und hasse dabei alles ein kleines bisschen weniger. Ja, ich überlege sogar Sauerteig anzusetzen. Wenn’s klappt, erfährst Du es als Erstes und dann kommst Du vorbei und ich mache Dir eine Nutellastulle.
Was machst Du? Wie geht’s Dir? Hast Du schon um Hildes Hand angehalten?
Komm schnell vorbei, ich halt einen Schnelltest und eine Tüte bereit. Auf meiner Eckbank ist immer Platz für Dich!
Ida
Von Toni
an Ida vom 28.11.2021
Ida, ich komme. Wenn wir uns jetzt nicht sehen, wann denn dann. Vielleicht hat mich auch der Geist deiner Schulhofboys aka Patrick die ganze Zeit, klammheimlich, davon abgehalten, zu kommen. Ich weiß nicht, warum ich mich als Gast schon früher immer nur dann wohlgefühlt habe, wenn die Männer des Hauses gerade außer Haus waren. Wenn dein Papa nachmittags von der Arbeit kam, fand ich das irgendwie auch immer etwas ärgerlich (was sehr gemein war, denn er war erstens immer nett zu mir und hatte ja zweitens gar nichts mit uns beiden im Kinderzimmer zu tun).
Andere cis-Männer, deren Anwesenheit ich nicht unbedingt gebraucht hätte, lassen ihren Geist gerade in Hildes Wohnung walten. Ich bringe es immer noch nicht so richtig über die Lippen, aber Hilde hatte leider Corona und sie hat es zwar überlebt, allerdings ziemlich, ziemlich hart kämpfen müssen. Es waren schrecklich traurige Tage für mich, ich bin keine Angehörige, hatte somit überhaupt keinen Zugang zu ihr und man konnte ja sowieso nichts für sie tun, sie lag intensiv. Am meisten wehgetan hat es aber, dass sie und ich zuvor so siegessicher waren. Wenn von Impfdurchbrüchen die Rede war, habe ich ihr immer wieder die Zahlen genannt: so ein geringer Prozentsatz, das wird uns schon nicht treffen. Und dann war sie natürlich durch ihre Arbeit als Impfhelferin einem höheren Risiko ausgesetzt als nötig.
Ich verstehe ehrlich gesagt ganz gut, dass ihre beiden Söhne es ok finden, mir eine Schuld an dem Ganzen zu geben. Nicht, dass ich die tatsächlich hätte, aber es bietet sich ja an, mich zur Verantwortung zu ziehen. Ich habe Hilde in diesem Sicherheitsgefühl ja bestärkt und irgendwen will man immer verantwortlich machen. Ich würde diese großzügige Fairness gegenüber deren Unfairness aber sehr viel besser walten lassen können, wenn die beiden nicht gleich solche verbohrten Arschlöcher wären. Man weiß nie so richtig, wo sie stehen, ehrlich gesagt. Keine Ahnung, ob sie mit Coronaleugner:innen und Nazis auf die Straße gehen und als was sie sich dabei dann selbst bezeichnen würden. Was man aber sofort sieht, ist, dass sie sich ständig benachteiligt fühlen. Dass sie ständig allen unterstellen, ihnen was Böses zu wollen. Sie lassen sich deswegen auch nicht testen, da kommen nur falsche Ergebnisse raus und dann muss man in Quarantäne und das lassen sie nicht mit sich machen. Hä? Ich kann allein kognitiv nicht folgen. Ich widerspreche vielen Menschen, deren Argumente schwach und deren Schlussfolgerungen schlichtweg falsch sind. Aber diese neue Art, einfach grundsätzlich felsenfest der Meinung zu sein, alle anderen wollen einem was Böses und sich dafür dann merkwürdigen Kausalitäten hinzugeben, ich komme da nicht mit.
Während die beiden Söhne (die Töchter halten sich raus, sie wissen vermutlich, warum), also überall einen Kampf wittern, wittere ich seitdem überall Viren, wirklich überall, selbst in Kiwis. Ich bin jetzt geboostert, seitdem geht es wieder und ich muss mich wohl oder übel damit abfinden, dass die Lage erstens verzwickt bleibt, wir zweitens aufhören sollten mit der Unbedarftheit reicher Wohlstandskinder und ich drittens wohl beim nächsten Lockdown (es muss wohl einer kommen?) keinen Knuffelkontakt zu Hilde mehr haben werde. Sie liegt die meiste Zeit im Bett und ihre Geister lassen mich deutlich wissen, dass ich kein gern gesehener Gast bin. Ich stelle manchmal Blumen vor die Tür und fühle mich dabei wie ein Eindringling.
Aber du hast es ja schon gesagt und vorgelebt: Corona hat zu Entscheidungsfreude geführt und ich freue mich über deine Entscheidung. Also, ohne irgendwas beurteilen zu können: Ich glaube, du hast das sehr gut gemacht und jetzt, wo Patrick weg ist, komme ich, dann können wir über ihn lästern (ich bin eh im Homeoffice und Lästern war im Büro ja auch Teil der Arbeitszeit!).
Und wenn das Lästern zu öde wird, gucken wir „Verrückt nach Mary“, versprochen.
Toni
Die Autorinnen
Shida Bazyar ist Autorin. Ihr Debütroman „Nachts ist es leise in Teheran“ erschien 2016 und wurde u.a. mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis und dem Uwe-Johnson-Förderpreis ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. 2021 erschien ihr Roman „Drei Kameradinnen“, der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.
Rebekka Endler ist freie Autorin, Journalistin und Podcasterin. Sie schreibt über Menschen, Kunst & Kultur, Politik & Soziales – unter anderem für Deutschlandfunk Nova, Deutschlandfunk Kultur, Deutschlandfunk, den WDR und diverse Magazine. 2021 veröffentlichte sie „Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt“.